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Schecks kulinarischer Kompass, Denis Scheck

zitiert aus: "Schecks kulinarischer Kompass", Denis Scheck, aus dem Kapitel "Geheimtipps" (Seite 79-83), Piper Verlag, München 2022, ISBN 978-3-492-07144-4

(…)

Schreibe ich also über Geheimtipps, auch wenn das bedeutet, in anderer Hinsicht mit Zitronen zu handeln. Ich hasse mich schon jetzt dafür, was ich im Begriff stehe zu tun. Ein Geheimtipp ist ein tolles Restaurant an einem Ort, wo man kein tolles Restaurant zu finden erwartet. Wenn man über einen Geheimtipp schreibt oder auch nur in der Öffentlichkeit darüber spricht, hat dies zur Folge, dass ein Run auf dieses Restaurant einsetzt, sodass man am Ende selbst keinen Tisch mehr bekommt. Also schwört man sich jedes Mal, nie wieder, wirklich nie wieder über Geheimtipps wie das Da Michele in Baden-Baden (…) zu schreiben. Beide Restaurants verbindet eine erstaunliche Camouflage: (…) Noch weiter treibt den Willen zur Tarnung das Da Michele (…) im Stadtteil Baden-Oos: Im typischen Dekor eines Pizza-Pasta-Italieners findet man hier, einen Steinwurf vom Baden-Badener Bahnhof entfernt, große italienische Küche. Nur, wer käme inmitten der Kulisse kulinarischer Tristesse wie etwa des Bergs Pappschachteln am Eingang für die belegten Teigfladen zum Mitnehmen schon auf die Idee, diese hier zu suchen?

Baden-Baden ist für Gastronomen ein sehr gutes, für Gourmets hingegen ein sehr heikles Pflaster. Wie lässt sich, ohne in Klischees zu verfallen, der Sachverhalt ausdrücken, dass eine aus Rentnern und Spielcasinobesuchern, Touristen, Schweizer-Franken-Freibeutern und den immernoch zahlreichen russischen Gästen bestehende Klientel zur Herausbildung einer ambitionierten Gastroszene offenbar wenig fruchtbar ist? Sondern dass eine solche Gäste-Gemengelage im Gegenteil ein ideales Biotop für zynische Abzockläden bildet? Vermutlich lässt sich dieser Gedanke in politisch korrektem Deutsch heute gar nicht mehr formulieren. Halten wir dennoch fest: Nur in Baden-Baden lässt sich erleben, dass selbst Champagner und Kaviar deprimieren können. Man muss schon die Höllenkreise der Promi-Italiener und Medien-Hotspots, der Trüffelöl-Nudeln und der tranigen Lachs-Saschimi ganz durchmessen haben, um würdigen zu können, was das Da Michele für Baden-Baden leistet: nichts weniger als eine kulinarische Offenbarung.

Als Vorspeise auf der Zunge schmelzende Calamaretti, ein ungewöhnlich raffiniertes Lachstartar oder eine hinreißende Kombination aus Pulpo, Cozze und Venusmuscheln in einem raffinierten leichten Tomatenfond, anschließend Pappardelle mit Rappe und Salsiccia, ein sublim gegarter Wolfsbarsch, ein gegrillter Krakenarm oder eine zarte Kalbsleber mit Kapern: Derlei Köstlichkeiten verzeichnet die handschriftlich in einem DIN-A6-Heftchen festgehaltene Speisekarte, die einem die Wirtin Ellen und Tochter Pierina mit herzerwärmender Freundlichkeit gerne erläutern. In der Küche arbeitet Vater Michele Romano mit dem im Freiburger Colombi ausgebildetem Sohn Vincenzo, der weiter auf den Ausbau der feinen Gemüsegerichte wie der himmlischen Parmigiana sowie der Meeresfrüchte setzt und etwa dafür sorgt, dass Da Michele exquisite Austern im Angebot hat, mit denen man eine Mahlzeit dort beginnen sollte. Ja, es ist möglich, sagt dieses Lokal, in dieser korrumpierten, verhurten und dekadenten Stadt Baden-Baden gut zu essen. Habe ich übrigens erwähnt, dass ich Baden-Baden liebe? Korrumpiert, verhurt und dekadent sind auch Rom, Paris und New York. Erwachsensein heißt Komplexität aushalten. Ich liebe Baden-Baden. Und ich liebe diese Stadt nicht zuletzt wegen Da Michele.

(…)




Ristorante Da Michele
Inhaber: Michele Romano
Sinzheimer Str. 4
76532 Baden-Baden
Tel. 07221 - 61541

Ristorante Da Michele Baden-Baden